Fragen nach den Anschlägen in Paris ...
Paris, Beirut, Winnenden, Utøya – diese Orte haben sich in unser kollektives Gedächtnis gebrannt. Sie stehen exemplarisch für Schauplätze von schockierendem Terror und Massenmord.
Die Welt nimmt daran Anteil, in Stille wie im Lauten: Sie will, ja sie behauptet sogar, sie habe das Recht, nun alles darüber zu erfahren. Jedes Detail. Der Tod von Menschen wird zum medialen Mega-Event. Doch kaum einer fragt nach den Hinterbliebenen. Wie geht es ihnen damit, wenn der Tod des geliebten Kindes, der Schwester, des Bruders oder Enkels millionenfach durch die Medien und sozialen Netzwerke geistert, kommentiert und sogar kritisiert wird? Wollen sie nicht „einfach nur“ in Ruhe und Würde trauern und versuchen, mit ihrem Verlust zu (über)leben? Haben wir, die Gesellschaft, tatsächlich das Recht auf diese Form der Anteilnahme?
Läuft Trauer nach so einem groß angelegten Gewaltverbrechen anders ab? Oder wird das von den betroffenen Eltern „nur“ singulär empfunden? Wie wirkt sich der Aspekt einer möglichen „Schicksalsgemeinschaft“ aus?
Die Anschläge in Paris am 13.11.2015 haben viele Jugendliche und junge Erwachsene das Leben gekostet. Sie hinterlassen verwaiste Eltern und Geschwister. Und was das bedeutet, wissen viele der Lichtpunktträger.
Wir haben einer Expertin auf dem Gebiet Behandlung, Diagnostik und Epidemiologie der komplizierten Trauer und posttraumatischen Belastungsstörung sowie psychischen Folgen von Kriegen und Genoziden ein paar Fragen gestellt. Prof. Dr. habil. Birgit Wagner hat eine Professur für Klinische Psychologie & Psychotherapie - Verhaltenspsychologie an der MSB Medical School Berlin Hochschule für Gesundheit und Medizin inne und ist Mitglied des Beirats des VEID e.V..
Wir bedanken uns für die schnelle Beantwortung unserer ersten drei Fragen.
Es bleibt noch viel mehr zu fragen und dazu zu sagen.
Welche Prozesse setzen solche Großereignisse mit vielen Toten in Gang? (auf Seiten der Hinterbliebenen, der Verantwortungtragenden vor Ort bzw. im Ausland)
Birgit Wagner: Auf Seiten der Trauernden, die eine nahestehende Person bei einem terroristischen Akt verloren haben, setzten mehr oder weniger die gleichen Prozesse ein wie beispielsweise bei anderen gewaltsamen Tötungsdelikten oder traumatischen Todesumständen, die individuell erlebt werden. Durch Menschen verursachte Todesumstände sind für die Hinterbliebenen in der Regel insbesondere in der akuten Phase psychisch noch belastender als andere Todesumstände. Aus Studien weiss man, dass die Hinterbliebenen eher langfristig an einer komplizierten Trauerreaktion oder posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Flashbacks und Alpträume mit Bildern der gewaltsamen Todesumstände sind häufig Hauptsymptome und können einen normalen Trauerprozess behindern.
Wie ist es für die betroffenen Eltern, wenn das eigene, individuelle Schicksal zum Teil eines weltweiten Ereignisses wird?
Birgit Wagner: Ein wesentlicher Einflussfaktor sind die Medien, die in solchen Fällen intensiv über die Ereignisse berichten. In einer Studie wurden beispielsweise Kriminalitätsopfer gefragt, inwieweit das Lesen über das eigene traumatische Ereignis in den Medien sie beeinflusst hatte (Maercker & Mehr, 2006). Die betroffenen Opfer haben an, dass 66% sich danach traurig gefüllt hätten und nur 5% erlebten die Berichterstattungen angenehm. Des Weiteren standen diese negativen Gefühle in Zusammenhang mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Grundsätzlich kann man sagen, dass der Tod eines Kindes immer ein langfristiger Verarbeitungs- und Trauerprozess bedarf. Komplikationen in Form von Medienberichten oder gewaltsamen Todesumständen erschweren diesen an sich schon sehr schmerzhaften und langfristigen Prozess. Aus meiner eigenen Arbeit sind mir kaum Fälle bekannt, in denen die grosse mediale Anteilnahme für die Hinterbliebenen als hilfreich erlebt wurden.
Wer übernimmt die Verantwortung, sich um die Toten und die engsten Hinterbliebenen zu kümmern? Wer reagiert wann und wie?
Gibt es professionelle Hilfe?
Birgit Wagner: Die meisten Länder haben heute einen nationalen Krisenplan. Dies konnte man auch sehr gut an den Ereignissen von 13.11. sehen. Zu dem nationalen Krisenplan gehört ein breites Netzwerk von Polizei, Ärzten, Gerichtsmediziner, Seelsorger, Notfallpsychologen, Krankenhäusern, speziellen Einsatzkräften, etc. In der Regel können diese Krisenpäne in sehr kurzer Zeit aktiviert werden.
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