Über Keke Wanda Kasa N., vom Papa.
Kim Berra schreibt unter seinem Pseudonym über Männer, Genderthemen, Antisemitismus und Randbeobachtungen. Er ist Autor und Beobachter.
Und er ist ein verwaister Vater, der hier seine Geschichte erzählt.
vom 14. 10. 2012
Keke kam am 19. August 2011 als gesundes Baby zur Welt. Rosig, winzig klein und eigentlich sehr gelassen begann sie ihr Leben. Ich verliebte mich schnell in sie. Das Verliebtsein wandelte sich nach und nach in feste und tiefe Liebe. In den ersten Tagen ruhte sie viel, trank gerne und schien hin und wieder den Anflug eines Lächelns zu zeigen. Ich bekam Keke direkt nach der Geburt auf meinen Bauch, und weil sich ihre Mutter auch später noch von ihrem Kaiserschnitt erholen musste, übernahm ich viele Pflegeaufgaben. Ein Baby lernt man zunächst vor allem über den Körper kennen. Wickeln, aus- und anziehen, putzen und baden, herumtragen, kuscheln und auf dem Bauch vom Papa einschlafen lassen, das waren unsere Begegnungen, die ich heute so lebendig in Erinnerung habe.
Keke war ein ausgesprochen schönes Kind, zu allem Überfluss auch freundlich, friedlich und aufmerksam. Wie leicht fällt es Eltern, gerade wenn eines ihrer Kinder gestorben ist, die Zeit mit ihnen zu beschönigen. Natürlich ist ein Baby anstrengend, es raubt einem in den ersten Wochen viel Schlaf, schreit bei jedem Unbehagen und stellt den eigenen Alltag auf den Kopf. Weil Keke unser erstes Kind war, mussten wir viel dazulernen. Natürlich war ich auch von Zeit zu Zeit genervt und in manchen Momenten auch überfordert. Warum genau, sollte sich erst später herausstellen. Ich liebte an Keke aber nicht nur ihre gelassenen und klugen Seiten, auch ihre offene Art sich zu beschweren gefiel mir. Ich dachte, sie lässt sich nichts gefallen und kräht, sobald ihr irgend etwas fehlt oder zu viel ist.
Überrascht habe ich beobachtet, dass Keke alles, aber auch wirklich alles lernen musste. Trinken, verdauen, einschlafen und wach sein, Kontakt aufnehmen und den Menschen vertrauen, das waren die ersten Hürden, die Keke wundervoll gemeistert hat. Ich erinnere mich gerne an den Moment, als ich feststellte, dass sich Keke nicht nur auf unseren Armen herumtragen ließ, sondern sich sogar anschmiegte und die Nähe zu uns zu genießen schien. Umso mehr habe ich es gemocht, wenn sie auf meinem nackten Bauch schlief. Bonding nennt man das in der Fachsprache.
Durch ein Stipendium konnten wir beide, Mama und Papa, zu Hause bleiben. Als Keke zwei Monate alt war, zogen wir in eine andere Wohnung, die uns kindertauglicher und freundlicher erschien. Doch einige Schwierigkeiten blieben. Keke galt als Kind, das Säuglingskoliken hat, und wurde auch daraufhin behandelt. Trotz Behandlung trank sie nicht immer stetig und genug. Sie weinte oft nach dem Trinken und musste manche Gymnastikübung über sich ergehen lassen, die ihr Bäuchlein entlasten sollte. Wir überlegten sogar hin und wieder, ob Keke ein Schreikind sei, weil sie in manchen Phasen kaum zu beruhigen war, auch nicht spazieren gehen mochte und nicht gerne im Kinderwagen lag. Wir boten uns selbst Erklärungen an, wie Wachstums- und Entwicklungssprünge, die Koliken und äußere Reize. Immer wieder ließ sich Keke jedoch auch beruhigen, sie lachte oft und schien in ihren langen, ruhigen Phasen ein sehr zufriedenes Baby zu sein.
Ihr erstes Wort hieß ‚Ärä‘, damit begrüßte sich mich begeistert eines Tages, als sie mich nach dem Trinken auf dem Schoß der Mama zu Gesicht bekam. Sie lag hin und wieder auf ihrem Spielplatz mit einem Mobile darüber und begann, nach den Tierchen zu greifen, die wir in ihrer Nähe an eine Schnur gehängt hatten. Einmal, als die Mama Donald Duck nachmachte, lachte sie aus vollem Hals. Nach und nach spielte sich ein Tagesrhythmus ein, mit aufstehen, spielen, essen, schlafen bis zum Abend, der mit Massage, waschen oder baden, wickeln und gemeinsamem ins Bett gehen ausgefüllt war. Fürs Aufstehen und ins Bett bringen war ich zuständig. Mit Keke auf dem Bauch habe ich abends im Bett ein Buch gelesen. Einen damals angefangenen Roman habe ich bis heute nicht wieder angefasst.
Doch war nicht alles so, wie es sein sollte. Heute weiß ich, warum ich manchmal überfordert war, wenn kein Singen und kein Herumtragen Keke beruhigen konnte. Warum ich wütend wurde wegen dieser Hilflosigkeit und Keke genervt und gröber als nötig behandelt habe. Keke war auch ein schwer krankes Baby. Drei Tage, bevor wir mit ihr ins Krankenhaus fuhren, wurde es sehr viel ernster als zuvor. Keke weinte öfter scheinbar grundlos oder aus kleinstem Anlass. Sie trank noch unsteter und schien doch immer Hunger zu haben. Oft habe ich sie schon der stillenden Mutter gebracht, die nur frustriert feststellen konnte, dass sie doch nicht trank. Kekes Blässe wollte sich nicht mehr verbessern, und am Abend vor der Fahrt ins Krankenhaus machte ich mir noch die meisten Sorgen. Keke schlief nicht ein, trank auch nicht, weinte viel und schien Probleme mit dem Atmen zu haben. Nur weil sie schließlich doch in ihrem Bettchen lag, legte auch ich mich schließlich schlafen. Nachdem sie am nächsten Abend eine endlich wieder genießerisch getrunkene große Portion Milch doch noch ausspuckte, bestand die Mama darauf, dass wir eine/n Arzt/Ärztin fragen sollen. Wir fuhren mit dem Taxi ins Krankenhaus. Plötzlich ging alles rasend schnell. An diesem Tag hatte sie am Vormittag beim Spielen noch laut gelacht. Im Krankenhaus bekam sie erst einen Urinprobenbeutel, dann drei Stiche mit einer Nadel für einen Venenzugang. Sie sollte Flüssigkeit bekommen und ihr sollte Blut abgenommen werden. Man ging von einer Art Magen-Darm-Infektion aus. Ich hatte Keke beim Impfen erlebt, ihre Schmerzen und ihr sich-auf-dem-Arm-beruhigen-lassen. Aber der Schrecken und die Angst, die sie beim Venenzugang zeigte, war mir noch nicht begegnet. Hilflos sah ich zu, wie sie sogar aufhörte zu schreien und nur noch auf dem Behandlungstisch nach Luft schnappte. Sie bekam einen Herzinfarkt und musste binnen weniger als einer halben Stunde reanimiert und intubiert werden. Dabei wurden wir Eltern aus dem Zimmer geschickt und warteten geschlagene zweieinhalb Stunden auf dem Flur. Als der behandelnde Oberarzt zu uns trat und sagte, nach so langer Reanimation und ohne die Bereitschaft der Herzzentren in Deutschland, Keke zu übernehmen, würden sie jetzt die Herzdruckmassage beenden, konnten wir es nicht glauben. Unser gesundes Kind konnte doch nicht hier und jetzt ohne jeden erkennbaren Grund sterben.
Es folgten noch 24 verzweifelte Stunden an ihrem Krankenbett. Keke war voller Nadeln, Schläuchen, auf 30° Körpertemperatur gekühlt und bekam Unmengen Medizin hineingepumpt. Im Laufe der Zeit schlossen sich ihre Augen, die Schnappatmung setzte aus, ihr Herz wurde immer schwächer, die Nieren versagten. Am 09. Dezember 2011 starb Keke in unseren Armen.
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Ich habe bis jetzt nicht richtig verstanden, was eigentlich geschehen ist. Wir haben erfahren, dass Keke an einer seltenen Herzkrankheit litt, am Bland-White-Garland-Syndrom. Bei Menschen mit diesem Syndrom entspringt die Ader, die das Herz mit sauerstoffreichem Blut versorgen soll, derjenigen, die sauerstoffarmes Blut zur Lunge transportiert. Das eigentlich gesunde Herz ist also ständig sauerstoffunterversorgt und es kommt zu vielen kleinen Herzinfarkten. Es gibt viele Varianten dieser Krankheit, selten jedoch überlebt bis heute ein Kind mit diesem Syndrom den ersten Geburtstag. Wird die Krankheit erkannt, muss operiert werden. Die Fehlbildung selbst lässt sich wohl relativ leicht beheben, das geschwächte Herz muss aber vielleicht durch ein Neues ersetzt werden, die Herzleistung bleibt erheblich eingeschränkt. Ich habe noch nichts Genaues über die Langzeitfolgen dieser Operation gehört, ob und wie die Kinder sie überleben, bleibt mir unklar. Kekes frühe Symptome, wie Blässe, Atemprobleme beim Trinken und Unwohlsein in Enge (gerade in der von Babys sonst so geliebten Babytrage oder im Kinderwagen) oder auf dem Bauch konnten wir erst nach ihrem Tod zuordnen. Ihre Krankheit wurde erst bei der Obduktion diagnostiziert.
Die ersten Tage und Wochen nach Kekes Tod waren vom Schock geprägt. Wir haben Keke gewaschen, noch einmal angezogen und die Beerdigung vorbereitet. Ich hatte oft das Gefühl, nicht die rechte Zeit zum Abschied nehmen zu haben. Ich erinnere mich daran, dass ich kurz nach ihrem Tod aus dem Zimmer gehen musste, in dem sie lag und ihre ersten Totenkleider bekam. Das werfe ich mir heute ebenso vor, wie ich mich freue, dass ich sie einen Tag später immerhin ein paar Minuten auf dem Arm halten und auf Wiedersehen sagen konnte. Ein totes Baby ruft sicher Schrecken und Entsetzen hervor, aber der Abschied von Keke brauchte das Anfassen und Halten des toten Körpers. Spielt doch auch in der Beziehung zum lebenden Baby der Körper die entscheidende Rolle. Ich habe Keke selbst angezogen, ihren Sarg ausgesucht, geschmückt, zum Grab getragen und am Ende das Grab zugeschaufelt. Alles zusammen mit der Mama.
Manchmal fasziniert es mich, wie schnell der Alltag ohne Kind wieder normal wird. Wie schnell ich auch zurückgewonnene Freiheiten wieder genossen habe. Aber jede Neuordnung des Lebens nach dem Tod eines geliebten Menschen ist noch nicht der Abschied. Immer wieder stehe ich am Grab und nehme Abschied. Ich kann mich nicht versöhnen damit, dass Keke nicht mehr da ist und ich überhaupt nichts mehr für sie tun kann. Der Wunsch, sie möge doch bei mir sein, kann nicht gestillt werden, und weil er schmerzt wie noch nie etwas zuvor, muss ich ihn wieder und wieder verdrängen. Dabei fühle ich mich einsam, hilflos und bisweilen in der schwärzesten Verzweiflung. Daneben steht die Freude und das Lachen, wenn ich an die vielen wunderbaren Momente denke, die Keke mir geschenkt hat, als sie bei mir war. Mit Keke hatte ich die schönste und die anstrengendste, die zufriedenste und die rastloseste, aber auch die intensivste und die gleichförmigste Zeit in meinem Leben.
Kekes Tod hat mein Leben auf seine Weise enorm beschleunigt. Nie wäre mir so schnell klar geworden, wie nah sich Schmerz und Freude sind, ich hätte mich nicht so irrwitzig schnell von meinem Kind verabschieden müssen und ich hätte ohne ihn viel langsamer die Stärke meiner Wünsche nach Familie und Beziehung gesehen. Vor allem aber hätte ich Keke langsamer kennen gelernt und vielleicht nie begriffen, dass sie ein eigenes Leben jenseits meiner Vorstellungen hat, dass sie zufrieden und krank zugleich war und dass sie sich so sehr über ihr Leben und ihre Eltern freuen konnte, obwohl sie Schmerzen hatte, die sie nicht verstehen konnte. Erst nach ihrem Tod habe ich Keke besser verstanden.
Die Trauer bietet also Gelegenheiten. Es gilt, sich intensiv mit sich selbst und dem verlorenen, geliebten Menschen zu beschäftigen und die Prioritäten für das eigene Leben neu zu ordnen. Aber das Deutlichste an der Trauer ist der tiefe Schmerz, der mich gerade dann ergreift, wenn ich etwas Ruhe finde, wenn ich meine Wünsche nach Glück, einer schönen Blume oder nach Geborgenheit zulasse. Keke ist nicht mehr da, und beides, die Ungerechtigkeit, dass sie nicht hat weiterleben dürfen und sich so vielfältig verändern konnte, wie sie es zu Lebzeiten getan hat, sowie der Schmerz der riesigen Lücke, die sie in mir hinterlassen hat, werden nicht mehr gut werden. Das Bild, das ich von Keke behalte, wird sich wieder und wieder ändern, wie mein Leben auch, und doch bleibt, wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, der Gedanke:
Was soll ich sagen, es ist einfach schrecklich.
Wir danken Kim Berra dafür, dass er seine Geschichte hier erzählt hat. Auch dafür, dass er differenzierte Gefühle als Vater beschreibt und seinen Umgang im "neuen" Leben mit der Trauer nachvollziehbar macht. Wir wünschen ihm alles Gute und Liebe und viel Kraft gegen den Schmerz.
Fehlt Ihnen ein Zeichen zur Anteilnahme? Tragen Sie Ihren Lichtpunkt [mehr]. Die Aktion Lichtpunkt unterstützt den Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland (VEID) e.V.
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