11. November 2015


Im Ausnahmezustand. Begegnungen mit trauernden Eltern

von Beate Großmann

Ich nehme Dich an in deinem Schmerz und lasse Dich so, wie du bist. 

Alles hat seine Berechtigung, alles hat seine Zeit. 

Du wirst Deinen Trauerweg gehen, Du kannst diesen schweren Weg schaffen. 

Ich glaube an Dich und ich bin da. 

Ich denke mit Dir an dein Kind und fühle mit Dir und Deiner Familie.

Mein Sohn Philipp verlor vor acht Jahren sein Leben. Er wurde nur 17 Jahre alt. Philipp starb nach nur zwölf Wochen an seiner  Krebserkrankung bei uns zu Hause, in Liebe von uns und seinen Freunden begleitet. Ein Schock für uns alle. Ab der Diagnose begann sein und unser Leben im Ausnahmezustand. Ohne ihn zu leben, ist unendlich schwer. Meine folgenden Worte sollte unterstützende Hilfe sein, für betroffene Eltern, doch von allem für begleitende Angehörige, Freunde und Menschen im Umfeld des Trauernden. 

Foto: User:LeonardoWeiss, Wikimedia GNU free documentation license
Foto: User:LeonardoWeiss, Wikimedia GNU free documentation license

Wenn ich über meine Trauer spreche, werde ich meist von Nichtbetroffenen gefragt: Was kann ich tun? Was sage ich? Wie reagiere ich? Wie kann ich Unterstützung sein? Aus meiner eigenen Erfahrung heraus möchte ich einige dieser Fragen beantworten. Ich kann nur für mich sprechen. Darüber, was mir gut getan hat, was ich gebraucht habe, besonders in den ersten Tagen, Monaten und Jahren meiner Trauer. Ich spreche von Jahren, denn Trauer ist nicht begrenzt. Sie ist immer da, auch wenn sie sich mit der Zeit verändert. Alles kann, muss aber nicht stimmig für andere Trauernde sein. Und es gibt so Vieles zu sagen.


Ich beschränke mich, auf das meiner Meinung nach Notwendigste.

Nach der ersten Zeit und der großen Anteilnahme beginnt der Alltag wieder – für das Umfeld. Doch für die Trauernden nicht!


Die Welt steht still. Es ist nicht zu begreifen, dass das Leben weiter geht. Dass jeden Morgen die Sonne aufgeht, die Vögel zwitschern, das Leben draußen seinen gewohnten Gang nimmt. Ich fühlte mich abgeschnitten, weit weg vom Leben, umhüllt von einem Nebel, die Sinne getrübt. Ich war in einem Vakuum. Nichts konnte ich wahrnehmen. Die eigene Welt ist leer, unsichtbar, sprachlos und still. Ein Teil von mir ist damals mit gestorben. Ich funktionierte, auf das Überlebensnotwendigste beschränkt. Ich lebte nicht mehr, ich existierte nur. Das Leben ohne sein Kind ist ein gedanklicher Albtraum. Im Innen und Außen. In dieser Zeit ist es zusätzlich verletzend, wenn Freunde und Bekannte den trauernden Menschen aus dem Weg gehen. Auch wenn diese Begegnungen schwerfallen, so ist es doch so einfach, ein Lächeln, einen Gruß oder eine  kleine Berührung zu schenken. Wenn Worte fehlen, muss man sie nicht erzwingen. Ein „Ich weiß nicht, was ich sagen soll …“ oder „Mir fehlen die Worte ...“ reichen aus.


Es war furchtbar für mich, wenn Menschen, die ich gut kannte, auf die Straßenseite wechselten. Oder wenn sie wirklich so taten, als sähen sie mich nicht. Oder wenn sie über mich redeten. Es tat mir weh. Mir wurde bewusst, ich war mitten drin und doch so fremd, in der Normalität des Umfeldes. Unter allen war ich die Ausnahme. Ich habe gelernt, auch damit zu leben. Und bei diesen Menschen handhabe ich es inzwischen genauso.


So zu tun, als sei die Welt in Ordnung, ist fehl am Platz. Für trauernde Eltern ist die Welt nicht mehr in Ordnung. Die banalsten Aussagen können ein Schlag ins Herz sein, zum Beispiel ein „Schönes Wochenende“ zu wünschen. Es ist nichts mehr schön und nichts ist gut. Es gibt keinen guten Tag mehr. 


Es ist nicht tröstlich, nach dem unbegreiflichen Tod eines Kindes zu hören, dass die Zeit alle Wunden heilt oder dass das Leben weitergeht. „Sie haben ja noch ein Kind …“ Alles Worte, die den Tod des Kindes schmälern. In diesem Moment sind sie unangebracht und bedeutungslos. Sie nehmen nicht die Hilflosigkeit, die Machtlosigkeit und die Gewalt des Todes des geliebten Kindes. Und die obligatorische Frage „Wie geht’s?“ will doch niemand eigentlich wirklich beantwortet haben. Denn ein jeder, der Kinder hat, möchte sich nicht nur eine Minute lang vorstellen, sein Kind sei tot. Unvorstellbar, doch für betroffene Eltern ist dies der Alltag.

 

Stellt Euch die Frage selbst, was meint Ihr? Wie würde es Euch gehen?


Trauernde Eltern sind Jahre lang im Ausnahmezustand, auch wenn der Alltag augenscheinlich gelebt wird. In den ersten Jahren sind Betroffene darauf angewiesen, dass sich Freunde und Familie bei ihnen melden. Es reicht nicht aus zu sagen „Melde dich, wenn du/ ihr uns braucht!“ Das können Betroffen nur bedingt. Sie sind nicht fähig, anzurufen oder Dinge zu tun, die für andere so einfach erscheinen. Die Eltern sind buchstäblich „bewegungslos“. Ruft an! Schickt eine Karte! Schreibt eine Mail!
Wenn Eltern nicht sprechen oder Besuch haben können, dann akzeptiert das, doch scheitert nicht daran. Zeigt, dass ihr immer da sein werdet! Bleibt nicht fern, auch wenn es schwer ist, sie zu begleiten.


Eltern haben ihr Kind verloren – das Leben, das sie kannten, ist vorbei. Zusätzlich Familie und Freunde zu verlieren, ist kaum zu ertragen. Leider ergeht es den meisten betroffenen Eltern so. An Festen, Geburtstagen und sonstigen Feiern teil zu nehmen, muss neu erlernt werden – denn das Kind an der Seite fehlt. Alle sind da … Mein Kind fehlt. Und schlagen Eltern Einladungen aus, wird das leider nicht verstanden und als Rückzug gewertet. Hilfreich wäre, den trauenden Familien zu signalisieren „Ihr dürft euch entscheiden, ob ihr die Kraft und Stärke habt zu kommen“ und „Ihr dürft jederzeit kurzfristig ab- oder zusagen oder früher gehen,“ „So wie ihr euch entscheidet, ist es in Ordnung für uns“. Sätze wie „Auch uns fehlt euer Kind und wir erahnen wie schwer es sein muss, ohne euer Kind zu kommen,“ „Wir verstehen euch und nehmen es nicht persönlich, solltet ihr fern bleiben.“ macht es betroffenen Familien leichter, frei, je nach Verfassung entscheiden zu können. 


Besonders wichtig für Eltern ist, an den Gedenktagen des Kindes Anteil zu nehmen. Sei es mit einer Karte, einer Mail, einem kleinen Geschenk, einem Friedhofsbesuch oder einer anderen Geste, die den betroffenen Eltern sichtbar macht und zeigt: Es wird an mein Kind gedacht. Mein Kind wird nicht vergessen. Wir sind nicht allein. Anteil zu nehmen und dies die betroffenen Eltern spüren und fühlen zu lassen, auch Jahre nach dem Tod des Kindes, ist wunderschön und berührend und Balsam für die Seele. Blumen am Grab nieder zu legen gehört dazu. Niemals jedoch sollte am Grab von Außenstehenden etwas eingepflanzt werden. Das Gestalten des Grabes empfinden die Eltern als das Einzige, was sie noch für ihr geliebtes Kind tun können. Dies sollte respektiert werden. 


Wenn Freunde und Familie schweigen, sei es aus Unsicherheit, oder egal aus welchen Gründen, fühlt man sich immer allein gelassen. In der schwersten Zeit des Lebens fehlt dann die Unterstützung seitens der Familie. Dies ist für betroffene Eltern eine zusätzliche schwere und schmerzliche seelische Verletzung. So ergeht es leider vielen Betroffenen. Auch wir mussten uns von einigen Menschen in unserer Familie verabschieden. Doch wenn nicht geschwiegen wird, dann ist es schön zu hören: 

Ich nehme Dich an in deinem Schmerz und lasse Dich so, wie du bist. 

Alles hat seine Berechtigung, alles hat seine Zeit. 

Du wirst Deinen Trauerweg gehen, Du kannst diesen schweren Weg schaffen. 

Ich glaube an Dich und ich bin da. 

Ich denke mit Dir an dein Kind und fühle mit Dir und Deiner Familie.

Das Leben ohne sein Kind ist verrückt. Nichts ist mehr wie es war. Es muss neu geordnet werden und jede erdenkliche Unterstützung kann Halt sein: Bietet Euch an einzukaufen und alltägliche Dinge zu verrichten, helft im Haushalt. Macht Behördengänge, Erledigungen. Stellt einen Kuchen oder ein paar Blumen vor die Tür. Bietet an, Essen vorbei zu bringen.


Hinterbliebene Eltern sind bis tief ins Innerste verletzt und brauchen ein Umfeld, das liebevolles Verständnis zeigt. Das alte Leben mit seinem Kind ist Vergangenheit. Es ist Erinnerung, die Zukunft ist nicht mehr da.


Doch vergesst auch die Geschwisterkinder nicht!

Schenkt ihnen die Möglichkeit den Alltag mit Euch zu erleben. Sie haben ihren lieben Bruder, ihre geliebte Schwester verloren und ihre Eltern trauern, stehen unter Schock. Jedes Geschwisterkind leidet sehr.


Einfühlsam sollten auch die gestellten Anforderungen an die Trauernden sein. Leider ist die Erwartungshaltung des Umfeldes bereits nach den ersten Monaten der Anteilnahme sehr groß. Und ein Jeder betrachtet und wertet dies aus einem unterschiedlichen Blickwinkel. Die gebildete Meinung über die Trauernden äußert sich dann meist in gut gemeinten Ratschlägen, doch diese signalisieren jedem Trauernden nur „So wie du bist, ist es nicht ok für mich ...“ oder „Du solltest meiner Meinung nach anders sein ...“ Richtig ist, dass alles anders ist. Der Mensch verändert sich in der Trauer und sucht und findet sich und sein Leben neu. Das bedarf einer unbestimmt langen Zeit. Lange Jahre befand ich mich im Ausnahmezustand. Ich funktionierte im Alltag, doch ich lebte, fühlte nichts. Im ersten Jahr nach Philipps unbegreiflichem Tod stand ich lange unter Schock. Erst dann begann ich zu trauern. Alles Erdenkliche, was mich überleben ließ, habe ich in dieser Zeit unternommen. Ich hatte meinem Philipp versprochen, es zu schaffen, ohne ihn zu leben. Und ich wollte aus tiefstem Herzen, mit all meiner Liebe, weiter eine liebevolle Mutter für meine Tochter Isabell sein. 


Von Anfang an schrieb ich meine Gefühle nieder, ging in Selbsthilfegruppen, Seminare und las sehr viele Trauerbücher. Alle Angebote für trauernde Eltern, die mir angeboten wurden, nahm ich in Anspruch. Ich beantragte eine sechswöchige Reha, da ich wieder „Leben“ fühlen wollte. Innerlich war ich mit meinem Kind mit gestorben. Dort in der Reha, dieser Zeit des Alleinseins, habe ich mich entschieden,  weiter zu leben und stellte mich meiner Trauer. Ich wusste es wird ein langer schwerer Weg und ich werde ihn gehen, so wie auch Philipp seinen Weg gegangen ist. Die Trauer brachte mich in Tiefen, an Grenzen, die ich nicht in Worte fassen kann. Ich spürte immer, Philipp war bei mir, für immer, unvergessen und unendlich geliebt. Er hat seinen Platz in meinem Herzen. Er fehlt hier bei uns jeden Tag. 


Tiefe Sehnsucht und Schmerz begleitet uns auch heute noch. Ich trauere um meinen Philipp, mein Leben lang. Die Trauer endet nie, doch sie verändert sich, so wie auch ich mich verändere. Ich habe mich verändert. Mein Leben ist verändert und ich schätze sehr, dass ich heute wieder so leben kann. Auch mit all dem Schmerz der Trauer, denn es gibt nur ein Durchlebt werden, ein Drumherum gibt es nicht. Seinen eigenen Trauerweg zu finden ist Trauer-Arbeit und erst beim Gehen lernen wir, zu verstehen und langsam zu begreifen, was geschehen ist. Und mit den Jahren erst, ist es dann möglich das Schicksal anzunehmen und mit ihm zu leben. 


Heute ist die Trauer nicht mehr so schwer auszuhalten. Ich habe gelernt, wie ich sie besser ertragen kann. Sie lässt mich nicht mehr so tief fallen, doch sie ist allgegenwärtig. Ich habe gelernt, mit der Trauer zu leben und gehe meinen eigenen Trauerweg, glaube an mich und lebe im Hier und Jetzt. Ich lebe, ich liebe hier auf Erden und ich liebe bis zu meinem Philipp, dorthin wo er nun ist. Ich beginne jetzt nach einer zweijährigen Ausbildung, die mich auf meinem Weg sehr gestärkt hat, meine Trauerbegleitung und werde bald meine eigene kleine Praxis eröffnen. Wohin mich dieser neue Weg führen wird, das weiß ich nicht – ich lasse es geschehen. Und ich weiß, dass Menschen, die eine tiefe Trauer selbst durchleben mussten, die Menschen sind, die Trauernde bedingungslos verstehen und unterstützend und einfühlsam begleiten können. Nichts von allen Trauergefühlen ist mir fremd, denn die Trauer um meinen Philipp gehört zu meinem Leben. Ich werde immer weiter gehen.


Jeder Mensch hat die Fähigkeit, mit einem Schicksalsschlag umzugehen und findet seinen Weg aus der Krise. Es ist unvorstellbar schwer, doch mit dem Glauben an sich selbst ist es möglich. Mindert niemals diesen Glauben, indem ihr diesen Menschen sagt, wie sie den Tod ihres geliebten Kindes zu betrauern haben! Danke auch allen Nichtbetroffenen fürs Lesen. Glaubt ebenso an Euch, auch wenn ihr nicht immer so gehandelt habt, wie es angebracht gewesen wäre. So sind wir trauernden Eltern Euch von Herzen dankbar, wenn Ihr immer noch an unserer Seite seid und uns begleitet und Ihr nicht gegangen seid. Schön, dass es Euch gibt. Es ist uns durchaus bewusst, dass es auch nicht einfach für Euch ist.

DANKE AN ALLE LIEBEN MENSCHEN, DIE UNS BEGLEITEN und BEGLEITET HABEN.

Beate Großmann (51) lebt zusammen mit ihrer Familie in Kuppenheim im Schwarzwald. Sie verarbeitet den schweren Schicksalsschlag, den Tod ihres Sohnes Philipp, durch das Schreiben. In ihren Texten finden ihre Gefühle Ausdruck. Gefühle wie Trauer, die sie offen ausspricht und so viele andere betroffene Eltern erreicht. Aus ihrem Wunsch, Begleiterin für Menschen in Trauer und Krisen, besonders trauernde Eltern, zu sein, wird nun Realität: Im Dezember schließt Beate Großmann ihre Ausbildung zur Trauerbegleiterin ab. Anfang des nächsten Jahres wird sie ihre eigene Praxis Trauerbegleitung L(I)EBENSWERT in Kuppenheim eröffnen. Einige ihrer Texte und Gedanken sind hier nachzulesen  

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Weiterführender Links:

www.facebook.com/trauerbegleitungbeategrossmann   

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Kommentare: 3
  • #1

    Ellen (Donnerstag, 12 November 2015 00:17)

    Danke für diese sehr offenen Worte. Ich musste weinen, aber ich denke, dass es o.k. Ist und fast jedem so gehen wird. Den Schmerz kann ich nicht so nachfühlen, wie denn auch. Ich wäre vor über 30 Jahren fast Mutter geworden. Wie dieses kleine Gesicht aussieht, hab ich leider nicht erleben dürfen. Aber der Schmerz sitzt immer noch in mir. Ich hatte es mir so sehr gewünscht. Wie entsetzlich muss es sein, dieses Kind so viele Jahre zu begleiten und dann zu verlieren. Als vor sechs Jahren meine Eltern innerhalb von vier Monaten beide starben, konnte niemand begreifen, dass ich nicht nach sechs Wochen wieder normal lebte. Das muss doch jetzt wieder langsam gut sein, dürfte ich mir teilweise anhören. Nein, nichts ist gut. Ich habe lange, sehr lange gebraucht. Immer hatte ich dieses Gefühl, als wenn ich gleich aufwache und alles war nur ein Albtraum. Ich stand ständig neben mir. Man überlebt weiter, aber man lebt nicht mehr. Das muss man sich erst wieder zugestehen und lernen. Ihr Sohn wäre stolz auf seine Mama. Stolz darauf, dass sie damit lernt, zu leben und ihre Gefühle weiter zu geben. Ich danke Ihnen nochmals von Herzen dafür, dass ich dieses mein Gefühl bei Ihnen wiederfinde. Passen Sie gut auf sich auf.

  • #2

    Ulrike Dinger (Donnerstag, 12 November 2015 07:02)

    Liebe Beate,
    du schreibst wo wunderbar berührend und ergreifend. Ich habe grad einige Tränen vergossen.....ihr seid alle in meinem Herzen, fühlt euch umarmt

  • #3

    Monika Dietze (Sonntag, 15 November 2015 21:17)

    ich bin gerade voll überm Weinen....mein Sohn hat sich vor 2 Jahren das Leben genommen - mit 25 Jahren.
    Ich weiß, dass ihm das Leben schwer fiel, er war Asperger und trotzdem fehlt er mir soooooooooo sehr und ich will ihn so gern zurückhaben und festhalten......