Claras Geschichte
von Britta Walper
(Interviews zum Thema "Abschied")
Teil 1
Im Hintergrund lief der Parallelfilm Tod
Es ist ja immer so: Die furchtbaren Diagnosen und die bittere Erfahrung, dass das Leben endlich ist, kommen plötzlich – wie aus heiterem Himmel.
So auch bei uns. Unsere Tochter Clara (19) klagte über diverse Schmerzen und hatte Symptome, die wir nicht einordnen konnten. Dazu gehörten unerträgliche Kopfschmerzen, eine
taube Lippe, Doppelbilder und ein seltsames, unerklärliches Lachen. Sie schämte sich so sehr dafür, doch es war nicht steuerbar.
Wir fuhren in die Notfallambulanz des örtlichen Krankenhauses, weil wir endlich Klarheit haben wollten. Das war Anfang Februar 2012. Es wurden neurologische Tests durchgeführt. Die Ärzte wurden
auf einmal sehr hektisch und nach dem anderen untersuchte Clara.
Verdacht auf Raumforderung im Gehirn – Ansetzen eines MRT für den nächsten Tag.
Diesen Augenblick werde ich niemals vergessen. Es war einfach nur furchtbar. Die Ärzte verschanzten sich hinter Sachlichkeit und Clara und ich verstanden die Welt nicht mehr. Am nächsten Tag fuhren wir ungläubig zum MRT-Termin. Es war alles wie im Film. So unwirklich.
Der Verdacht bestätigte sich: ein Ponsgliom – inoperabel.
Für uns brach eine Welt zusammen. Ich kann dieses Gefühlschaos kaum beschreiben. Meine Tochter sagte nur, dass sich ihre geheimsten Befürchtungen bewahrheitet haben. Sie hatte es schon lange vorher geahnt.
Wir sind in eine Uni-Klinik überwiesen worden. Dort wurde uns ganz klar gesagt, dass Clara sterben wird, da es bei dieser seltenen Art von Tumor keine Chance auf ein Überleben geben würde.
Wir, die Familie, haben nur noch geweint – Vater, Mutter und weitere zwei Töchter, Claras Zwillingsschwester. Allerdings nicht in Claras Beisein. Bis Clara mich dann irgendwann ansprach und sagte: Mama, du musst nicht stark sein, du darfst auch um mich weinen.
Es war eine Befreiung, uns nicht vor ihr verstecken zu müssen.
Claras Überlebenszeit wurde auf ungefähr vier bis sechs Monate geschätzt. Sie durchlief die Standardbehandlung wie Bestrahlung und Chemo. Der Erfolg war vielversprechend, doch sechs Monate nach der Diagnose kam im Juli 2012 das Rezidiv...
Wir alle hofften auf ein Wunder, doch es gab immer den Parallelfilm Tod im Hintergrund.
Die Schwestern haben die Diagnose bzw. die Krankheit ihrer Schwester verdrängt und haben das gemeinsame Leben weitergeführt. Schule, Partys, sonstige Freizeitaktivitäten und Clara immer dabei. Es ging ihr soweit auch noch ganz gut.
Wir haben viel gemeinsam unternommen und noch sehr schöne Urlaube miteinander verbracht.
Anfang August hatte ich mich, in Absprache mit Clara und dem Rest der Familie, um einen Termin bei einem ambulanten Palliativarzt bemüht. Außer mir wollte keiner mit zu diesem Gespräch. Für mich war es immens wichtig, zu erfahren, wie das Sterben aussehen wird, was die Medizin machen kann und ob mein Kind auch nicht leiden muss. Es war ein sehr intensives Gespräch und es hat mich ruhiger werden lassen. Der Arzt hat mir auch die spätere, häusliche Betreuung zugesichert.
Anfang Dezember wurde Clara als palliativ von den Ärzten entlassen.
Es war von vornherein Claras Wunsch, zu Hause zu sterben und wir haben alles möglich gemacht, um ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen.
Das Pflegebett wurde geliefert und ein SAPV-Pflegedienst [Anm.: stationäre, ambulante Palliativversorgung] eingeschaltet.
Clara hat mit uns sehr viele Gespräche über den Tod geführt.
Es waren die schlimmsten und im Nachhinein wertvollsten Gespräche, die ich je mit einem Menschen geführt habe.
Sie teilte uns mit, dass sie keine Angst vor dem Sterben hat. Der Arzt hätte sie gut aufgeklärt und ihr sämtliche Ängste genommen. Neugierig sei sie auf den Tod bzw. was danach kommt.
Sie hat uns konkret gefragt: Wie sieht euer Leben nach meinem Tod aus? Sie wollte von jedem einzelnen Familienmitglied den weiteren Werdegang erfahren.
Sie hat einen Bestatter für sich ausgesucht, ihre Beerdigung genauestens mit uns besprochen und geplant. Welcher Friedhof, Erdbestattung, welche Musik, wo welche Anzeige erfolgen soll, welche Gäste in den ersten Reihen in der Kirche sitzen sollen etc.
Es war schrecklich und doch sehr beruhigend.
Ihren Nachlass hat sie im Freundeskreis und der Familie verteilt und gemeinsam mit den Freundinnen Erinnerungslichter gestaltet. Jeder hat einen individuellen Spruch auf seinen Kerzenständer bekommen.
Speziell die Monate von Dezember bis Februar 2013 waren voller Liebe, Ehrlichkeit, geprägt von tiefstem Vertrauen und gegenseitigem Respekt.
Anfang Februar ging es Clara rapide schlechter. Die Familie war rund um die Uhr für unsere wundervolle Tochter da. Durch unsere tolle Familienkonstellation war es uns möglich, immer mit 4 Personen im Haus zu sein. Einer war immer bei Clara im Zimmer und hat auch dort geschlafen. Die Tiere (2 Hunde und 3 Katzen) waren auch dabei und schliefen mit bei ihr im Bett.
Am Abend des 15.2.13 habe ich noch sehr lange an Claras Bett gesessen und ihr meine unendliche Liebe zu ihr geschildert und was für ein außergewöhnlicher Mensch sie ist.
Da sie nicht mehr sprechen konnte, nahm sie meine Hand und küsste sie immer wieder. Ein Moment, der unbeschreiblich voller tiefster Liebe ist.
So hat sich jeder aus der Familie ganz persönlich von ihr verabschiedet.
In dieser Nacht wurde sie komatös. Sie brodelte heftigst und Schaum kam ihr aus Nase und Mund. Es war furchtbar mit anzusehen. Die Morphiumpumpe wurde angeschlossen. Ein jeder von von tupfte ihr den Schaum weg.
Der Pflegedienst war auch die ganze Zeit anwesend, so dass wir uns sicher fühlten.
Am 16.2.2013 gegen 10 Uhr morgens machte Clara noch einmal die Augen auf und wir alle versammelten uns an ihrem Bett.
Sie sprach nicht und schaute uns nur ganz intensiv mit einem Blick, der kaum zu beschreiben ist, an. Dieser Blick ging ganz tief bis in Herz und trotzdem lag etwas darin, dass sie schon nicht mehr ganz auf dieser Welt war. Es war berührend und beängstigend zugleich.
Clara ist dann um 16.30 Uhr nach drei Pfeiftönen verstorben. Ihr Papa und die Pflegerin waren zu diesem Zeitpunkt bei ihr am Bett.
Teil 2
Abschied nehmen zu müssen – kaum zu begreifen
Es ist für mich unfassbar gewesen, dass mein Kind von einer Minute auf die andere nicht mehr am Leben ist.
Oma hat das Fenster geöffnet und ganz viele Kerzen angezündet.
Wir haben uns alle an ihrem Bett versammelt und ich habe nur noch geschrien und geweint. Mit Gott gehadert und alle unterdrückten Gefühle und Schmerzen in diesem Moment herausgelassen.
Jeder aus der Familie ist anders damit umgegangen.
Einfach unfassbar.
Wir haben Clara mit Hilfe der SAPV-Pflegerin fertig gemacht und schön angezogen. Jeder von uns hat ihr noch ein persönliches Geschenk mitgegeben.
Für uns stand fest, dass wir Clara noch mindesten 24 Stunden im Haus behalten wollten. Mit der Pastorin wurde eine Aussegnung für den nächsten Tag festgelegt.
Jeder von uns, auch ihre viele Freundinnen, haben bei uns zu Hause Abschied von Clara genommen.
Eine für uns ganz wichtige Zeit. Die Möglichkeit, immer wieder zu ihr zu gehen und letztendlich auch ihren Tod im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen.
Claras Körper veränderte sich in den 24 Stunden nach ihrem Tod. Der Bestatter hat sie dann am Sonntagabend abgeholt.
Der Moment, wo das eigene Kind im Sarg aus dem Haus getragen wird , ist einfach kaum zu ertragen.
Teil 3
Nicht fort, nur ein Stück voraus
Unsere Familie hat gemeinsam beschlossen, die Beerdigung und die Trauerfeier wie eine Art „Hochzeit“ zu gestalten. Clara wollte so gerne ihren Schatz heiraten, doch dazu ist es nicht mehr gekommen.
Also haben wir einen weißen, sehr schönen Sarg ausgesucht und einen wundervollen Blumenschmuck, der ihr sehr gefallen hätte: Schleierkraut, rosa Rosen und blaue Blumen. Ihre Lieblingsfarben…
Wir haben uns einen Spruch ausgesucht, der nach vorne blickend sein sollte und so haben wir uns entschieden für „Ich habe euch nicht verlassen sondern bin euch nur ein Stück voraus“.
Dieser Spruch kam in die diversen Anzeigen und wurde auch auf dem Grabstein übernommen.
Die Trauerfeier war für fünf Tage später angesetzt worden und wir ahnten schon, dass es eine riesige Feier werden würde. Clara hatte es sich so gewünscht und ja schon vieles vorbereitet. Wir haben ihre Wünsche dann nur zu Ende ausgeführt. Sie hatte festgelegt, welche Musik in der Kirche gespielt werden sollte, Rihanna und Cro, wer in der ersten Reihen sitzen und wer welche Ansprachen halten sollte.
Ich sah diesem Ereignis mit großer Angst entgegen und wusste nicht, wie es mir gehen würde.
Wir hatten uns schon eine Stunde vor der Trauerfeier in der Kirche eingefunden, um in Ruhe von ihr Abschied zu nehmen, doch die Kirche war schon mit Besuchern gefüllt.
Der Gottesdienst sowie später der Gang zum Grab rauschte einfach so an mir vorbei. Im Nachhinein kann ich mich kaum an einen der über 300 Trauergäste erinnern.
Später erzählte man mir, dass es eine sehr „lebendige“ Trauerfeier mit schönen Reden von verschiedenen Vortragenden war. Alles sehr festlich, feierlich, respektvoll und sehr emotional.
So hatte es sich Clara auch gewünscht.
Ich kann im Rückblick sagen, dass wir als Familie alles so gemacht haben, wie es sich unsere Tochter gewünscht hat.
Und auch für mich wünsche ich mir eine solche schöne Beerdigung.
In diesem Zuge haben wir ein Familiengrab und Grabstein gekauft, sodass wir unser letztes Zuhause schon ausgesucht haben. Ein beruhigendes Gefühl - sehr tröstlich, dass wir als Familie irgendwann wieder vereint sind.
Nach der Beerdigung war auf einmal alles still und leer. Erst da ist mir bzw. uns der Verlust und der Tod begreiflich geworden. Es war mit die schlimmste Zeit.
Ein Jahr lang hatten wir Clara Tag und Nacht gepflegt, die ganze Familie samt Verwandtschaft und Freunden hatte in einem Haus gewohnt und nun diese Leere.
Ich wusste gar nichts mit meiner Zeit anzufangen, alles erschien mir sinnlos...
Die Geschwister sind relativ schnell wieder zur Arbeit gegangen. Bei mir funktionierte diese Art der Ablenkung nicht. Ich wollte weinen, traurig sein und jeden Tag zum Grab gehen. Sehen, wer Clara auch noch besucht.
Es ist mir bis heute wichtig zu sehen, dass sie nicht in Vergessenheit gerät.
Damals traute ich mich auch kaum vor die Tür. Ich wollte den Nachbarn und Freunden nicht immer von meinem Schmerz erzählen, sah dabei auch ihre Hilflosigkeit.
Dabei wäre es so einfach, zu helfen: praktische Hilfe anbieten wie Haushalt machen oder mir zuhören und zum zigsten Male ihre bzw. meine Geschichte anhören, einfach über Clara reden zu können. Mein Umfeld hat sich nicht getraut und ich auch nicht.
Meinen Job als Führungskraft bei einer Bank habe ich kurz danach aufgegeben und angefangen Psychologie zu studieren sowie eine Ausbildung zur zu machen. Nächstes Jahr bin ich fertig.
Wir haben einen Verein zur Trauerbearbeitung gegründet und ich arbeitet dort ehrenamtlich. Unsere Räume befinden sich im ortsansässigen Hospiz.
Jetzt ist meine Arbeit sinnvoll!
Wir danken Britta Walper für diesen Erfahrungsbericht im Rahmen unserer Interviews zum Thema "Abschied" während der Aktion Lichtpunkt 2014.
Britta Walper (52) lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Lüneburg. Momentan absolviert sie eine umfangreiche Ausbildung zur professionellen Trauerbegleiterin und Psychoonkologin, die sie 2015 abschließen wird. Um verwaisten Eltern und ihren Angehörigen so qualifiziert wie möglich zur Seite stehen zu können, wie sie sagt. Dafür gründete sie gemeinsam mit anderen Engagierten „Claras Haus e.V.“. (www.clarashaus.info)
21. November 2014
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Dirk (Freitag, 21 November 2014 15:17)
Ich bin in FB zufällig über den Beitrag "gestolpert" und dachte, ich lese mal weiter ... unser Bärchen ist am 16.02.13 um 16 Uhr gegangen
(ich war noch nicht in der Lage etwas aufzuschreiben ... )
Aktion Lichtpunkt (Freitag, 21 November 2014 17:27)
Am selben Tag?
Dirk (Samstag, 22 November 2014 09:13)
... und fast zur selben Zeit :'(
und es war der erste Bericht, den ich hier gelesen habe, ich tue mich (noch) immer schwer mit diesen Berichten - nun weiß, ich woher die "Stimme" kam, die sagte ich soll diesen Bericht lesen