Helene Langen: Für Monika
Kolumne: Lebendige Erinnerung
Aus dem VEID e.V. Rundbrief vom 17/2013
Auch das ist Fußball!
Ja, ich bekenne mich dazu. Ich bin Fußballfan. Schon im Kinderwagen wurde ich zum Bökelbergstadion geschoben, um meinen Vater von den Ligaspielen abzuholen. Im frühen Jugendalter war ich endgültig infiziert von dem Virus des Fußballs, von meiner Borussia aus Mönchengladbach. Seitdem gehe ich zwar nicht regelmäßig, aber immer wieder zu den Spielen. Als mein Sohn alt genug war, nahm ich ihn mit. Mein Mann hat nämlich „nichts am Hut“ mit Fußball. Durch ihren letzten Freund war auch unsere Tochter Monika an den Fußball herangeführt worden. Zu dritt verfolgten wir nun den Werdegang unserer Borussia.
Bald sollte ein besonderes Ereignis stattfinden. Das altehrwürdige Bökelbergstadion hatte ausgedient und sollte abgerissen werden. Für die letzten drei Heimspiele besorgte ich mir, um gebührend Abschied zu nehmen, schon im Januar je zwei Eintrittskarten. Jeweils zu einem Spiel sollten mein Sohn und meine Tochter mich begleiten. Das allerletzte Spiel war noch nicht verplant.
Dann geschah das Furchtbare! Unsere Tochter Monika wurde am 26. Februar von ihrem neuen Freund hinterrücks ermordet, weil er annahm, sie wollte ihn verlassen. Eine Welt brach für uns zusammen. Nichts war mehr so, wie es vorher gewesen war. Wie sollten wir uns davon je erholen?
Das Leben lief wie heruntergespult an uns vorbei. Viele Fragen blieben offen. Hat sie nach uns gerufen in ihrer Todesangst? Wie lange musste sie leiden, den Tod vor Augen? Wie kann ein Mensch einem Menschen so etwas antun?
Alles wurde zur Nebensache. Nichts war mehr wichtig und uns etwas wert. Aber wir waren gezwungen weiter zu leben, damit der Mörder uns nicht auch noch völlig zu Boden trieb. Unsere Familie hielt zusammen. Wir „schafften“ die Beerdigung und die Wochen danach. Allmählich musste der Mordprozess vorbereitet werden. Ich sehnte mich nach Alltag und Bodenhaftung, nach „Normalität“.
In dieser Zeit nahten die Fußballspiele. In den ersten Wochen konnte ich daran keinen Gedanken verschwenden. Die Karten für die ersten beiden Spiele verschenkte bzw. verkaufte ich. Aber es sollte am 22. Mai endgültig Abschied vom Bökelbergstadion genommen werden, einem Teil meiner Jugend und meines Lebens. Konnte/durfte ich meinem Hobby wieder nachgehen? Was hätte Monika dazu gesagt? Vielleicht wäre sie ja zum Spiel mitgegangen! Mein Sohn jedenfalls war verhindert.
So entschied ich mich für die Normalität und Ablenkung. Ich lud einen Verwandten zum Spiel ein, und wir fuhren zum Stadion. Statt meines eigenen nahm ich aber Monikas Fanschal mit. Wir hatten Stehplätze, Block 28, Ostseite. Mein Begleiter stand links von mir, rundherum nur fremde Menschen, die von unserem Schicksal nichts ahnten. Wie das am Bökelberg bei Fußballspielen so war, kam man mit wildfremden Menschen ins Gespräch. Der Mann hinter mir korrigierte mich sogar, als ich meinem Sohn ein falsches Zwischenergebnis simste. Der Mann rechts von mir erzählte mir, er käme aus Hagen mit der S-Bahn, zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Er hatte eine Dauerkarte für jedes Heimspiel. Ich versuchte, mich auf das Spiel zu konzentrieren. Borussia gewann es. Eine Niederlage hätte ich kaum ausgehalten in meiner Verfassung.
Nach dem Fußballspiel gab es noch ein kurzes Abschiedsritual, Fallschirmspringer, ein Spruchband an einem Flugzeug, Fahnen, Banner und Jubel-Wellen. Alle Leute im Stadion schwenkten zur Borussenhymne ihre Schals, ich den von Monika. Dabei drehte ich mich zu meinem rechten Nachbarn und sagte: „Der Schal gehört eigentlich meiner Tochter. Sie ist vor drei Monaten ermordet worden.“ Wie ich dazu kam, das preiszugeben, kann ich nicht sagen. Aber der Mann wandte sich mir zu und fragte betroffen: „Ehrlich?“ – „Ja, wirklich!“, antwortete ich. Da nahm mich dieser mir wildfremde Mann in die Arme, drückte mich und sagte zu mir: „Und glauben Sie mir! Sie ist jetzt bei Ihnen!“ Dann ließen wir einander los, und während mein Begleiter mich fragend ansah, begannen wir wieder, unsere Schals kreisen zu lassen.
Wie passt ein solches Erlebnis auf einen Fußballplatz? Es gibt eben überall Menschen mit feinem Gespür. Manchmal trifft man sie, und das Leben wird durch sie ein klein wenig erträglicher.
Über Grenzen hinweg
Es ist ein Ritual geworden. Jedes Jahr am Heiligen Abend bringen mein Mann und ich einen geschmückten Mini-Weihnachtsbaum zum Grab unserer Tochter Monika. Dann stelle ich noch eine winzig kleine Krippe aus Holz auf den Sockel des Grabsteins.
Im Laufe der Jahre haben es Regen und Schnee geschafft, dass schon einige Holzkrippchen buchstäblich „aus dem Leim“ gegangen sind. Da half dann irgendwann auch kein Kleben mehr, und wir mussten einmal mehr die auseinander gefallenen Teile entsorgen.
Ein anderer Schauplatz: Im Mai 2013 unternahmen mein Mann und ich eine traumhafte Kreuzfahrt im Mittelmeer. Wir machten zahlreiche Ausflüge an Land, um einen Eindruck von den vielen verschiedenen Ländern zu bekommen. So besuchten wir auch Athen, das alte und das neue. Am späten Nachmittag hatten wir noch eine Stunde in der Altstadt zur freien Verfügung. Wir sahen uns Gebäude und Straßenzüge an, um Eindrücke zu sammeln. Ich konnte es nicht lassen, auch einige Geschäfte und Andenkenläden zu betreten.
So kam ich in ein kleines Geschäft, in dem landestypische Gegenstände und der übliche Touristenkitschangeboten wurden. Beim Vorbeischlendern dann sah ich sie an einem Ständer an der Wand hängen – eine winzig kleine Krippe aus einem einheimischen Holz. Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Das sollte mein Mitbringsel für Monika sein! Ich nahm meine weiteren Einkäufe und die Krippe und ging damit zur Kasse. Die griechische Verkäuferin nahm die Sachen und steckte sie in eine Tüte. Bei der kleinen Krippe zögerte sie vor dem Einpacken und fragte mich: „As a gift?“ – als ein Geschenk? „Nein, danke!“ antwortete ich in meinem bruchstückhaften Englisch. „Nicht als Geschenk!“ Die junge Frau begann, eine Folie als Schutz um die Krippe zu wickeln. Als ob es eine Erklärung wäre, sagte ich, dass die Krippe für Weihnachten sei. „Doch ein Geschenk?!“, zögerte die Verkäuferin. „Nein! Kein Geschenk! Sie ist für meine Tochter.“ Die Athenerin war irritiert. Wie sollte sie damit etwas anfangen! „Ein Geschenk?“, fragte sie abermals. „Nein! Meine Tochter ist tot“, versuchte ich zu erklären. Abrupt stutzte die junge Griechin. Sie sah mich betroffen an. Dann fragte sie leise: „How old?“ – „Dreiundzwanzig!“, antwortete ich. „Vor neun Jahren!“ Sie sah auf die Krippe und hörte auf zu hantieren. „Sie ist ermordet worden“, fügte ich hinzu. Die junge Verkäuferin war nun total verunsichert und wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte oder wie sie weiter machen sollte. Nach einer Weile des gegenseitigen Schweigens sagte sie leise: „Ich möchte Ihrer Tochter etwas schenken.“ Dann ging sie zu dem Ständer an der Wand und suchte mit den Augen nach etwas Geeignetem. Sie kam zurück und überreichte mir einen kleinen Stern aus Holz. Ich war verblüfft und total gerührt. Mit Tränen in den Augen bedankte ich mich mehrmals bei ihr. Die eingepackte Krippe und den Stern in der Hand verließ ich mit meinen anderen Einkäufen das Geschäft.
Was war mir da passiert? Eine völlig fremde Frau in einem fremden Land wollte mich mit einer rührenden Geste trösten! Ich war dankbar und glücklich über so viel mitmenschliche Anteilnahme. Da musste ich nach Griechenland fahren, um so etwas zu erleben!
Zu Hause angekommen, suchte ich nach einer Möglichkeit, die Holzkrippe vor Feuchtigkeit zu schützen. Ich fand eine kleine Laterne, die von der Größe her wie geschaffen war, um die Krippe aufzunehmen. Den kleinen Stern band ich an den Laternenbügel. Nun wartet die kleine Laterne mit der Krippe darin auf ihren Einsatz am Heiligen Abend. Und Athen werde ich für mich immer mit diesem Erlebnis in Verbindung bringen.
Wir danken Helene Langen dafür, dass sie ihre Geschichte im Rundbrief erzählt hat. Der Artikel erschien in der Kolumne Lebendige Erinnerungen des Rundbrief vom VEID, der einmal im Kahr erscheint.
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Julia Schmalfuß (Dienstag, 31 Dezember 2013 13:08)
Liebe Helene ! Deine Geschichten zeigen,dass das Leben ,auch wenn es für uns so viel trauriger geworden ist, auch Trost und Mitgefühl haben kann !
Alles Liebe, Klaus u.Julia.
(habe mir eben einen Lichtpunkt bestellt )!