Das Zimmer meines Kindes: Philip
von Elke & Celine Schmieder
Eigentlich waren wir eine ganz normale Familie: Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Wir haben ein Haus und jedes unserer Kind hatte sein eigenes Zimmer unter dem Dach. Vor drei Jahren dann erkrankte unser Sohn Philip (14) an einem Gehirntumor. Von da an, musste ich, seine Mama, immer an seiner Seite bleiben. Papa ging auch, aber Mama war besser. Weil Philip nach seiner Operation an den Rollstuhl gefesselt war und ihm das Laufen sehr schwer fiel, haben wir sein Bett kurzerhand in unser Esszimmer gestellt. Hier spielte sich das meiste Alltagsleben ab, und er konnte so mehr bei uns sein. Da es ein großes Bett war, konnte ich ich immer in seiner Nähe sein, auch nachts. Man ist dann kein Paar mehr, man ist dann nur noch Mutter und Vater. So habe ich das zumindest empfunden.
Sein Zimmer wurde in der Zeit nur noch selten genutzt. Er selbst konnte es ja nicht mehr. Wir haben es nur noch zum Lüften betreten oder um Sachen zu holen. Natürlich stand alles so da, wie es immer war.
Philip hat nie mit seinem Schicksal gehadert, war immer gut drauf. Aber er starb innerhalb von nicht ganz sechs Monaten. Nach seinem Tod hat sich jeder unterschiedlich verhalten. Für mich war unsere Tochter jetzt wichtig und stand an erster Stelle. Ich wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass wir nur mit unserer Trauer beschäftigt waren, und sie dabei vergaßen. Also legte ich mein Augenmerk größtenteils nur auf Sie. Meine Trauer musste warten. Klar, wenn ich im Bett lag, und alle schliefen, kamen die Tränen und die Frage nach dem Warum. Zum Glück hatte ich Leute um mich herum, mit denen ich reden konnte. Und das tat ich auch. Bei meinem Mann Jan dachte ich, dass er alleine klar käme oder zumindest mich nicht so sehr brauchen würde wie unsere Tochter. Leider täuschte ich mich da. Er saß viel am Computer, den er in Philips Zimmer gestellt hatte. Er hat sein Zimmer etwas für sich umfunktioniert, aber alles war noch an seinem Platz. Er wollte wohl schnell mit allem abschließen, doch später kam der Schmerz richtig durch. Er bekam Depressionen, zog sich in Philips Zimmer zurück und weinte.
Unsere Tochter Celine, damals 12 Jahre alt, und ich waren eigentlich selten in seinem Zimmer. Wir haben am Anfang lieber einen Bogen drum herum gemacht. Doch ein halbes Jahr nach Philips Tod habe ich an einem Nachmittag zusammen mit einer Freundin seine Klamotten ausgeräumt. Einfach so, ohne groß darüber nachzudenken. Einiges haben wir behalten, anderes weggegeben.
Für mich war sein Zimmer wichtig, als er noch da war. Aber nachdem er gestorben war, hatte ich dazu nicht mehr so den Bezug. Ich konnte und wollte nicht, dass es ein Ort der Trauer in unserem Haus wurde. Die Trauer war für mich überall. Anders ist das mit seinen persönlichen Dingen: sein Base-Cap, dass er so mochte, Stifte, die er benutzt hatte, Blätter, auf die er geschrieben hatte. Jeden Schmierzettel habe ich aufgehoben. Ich kann das nicht entsorgen. Ich habe alles in Kisten gepackt, an die ich jederzeit herankann.
Philips Zimmer gehört jetzt seiner Schwester. Wir haben lange überlegt, ob das so richtig ist. Seid sie jedoch in dem Zimmer ist, kann sie wieder ruhiger schlafen. Und wir reden sehr viel mit ihm, aber das in der ganzen Wohnung. Unser Esszimmer, wo unser Philip letztendlich gelegen hat und auch gestorben ist, ist jetzt unser Schlafzimmer. Da fühlen wir uns ihm nah.
Sein Lieblingskuscheltier sitzt auf unserem Bett, ein Bild und ein Kristall, in den sein Bild gelasert wurde, steht im Schlafzimmer auf einem Schrank. Diese Sachen packen wir auch ein, wenn wir für mehrere Tage wegfahren.
Für mich sind es eindeutig die vielen kleinen Dinge, die uns von Philip geblieben sind, die mir wichtig sind. Wichtiger als sein Zimmer. Denn er lebte ja nicht nur in diesem einen Raum. Wir erinnern uns überall an ihn und spüren ihn in unserem gesamten Haus.
Philips Schwester Celine ist mittlerweile 15 Jahre alt und berichtet vom Zimmer ihres Bruders, das nun ihres ist:
Das Zimmer meines Bruders ist in zwei ziemlich gleich große Räume unterteilt. Im vorderen Zimmer hatte Philip ein Sofa, eine Kommode und einen Schreibtisch stehen und im zweiten, hinteren Zimmer standen ein Bett und ein großer Schrank. Seit diesem Jahr gehört das Zimmer mir, und ich bin wirklich sehr stolz darauf, Philips altes Zimmer, meins nennen zu dürfen. Ich fühle mich hier sehr wohl und bin auch gern hier. Es ist ein Ort des Vertrauens, da ich als kleines Mädchen schon sehr oft bei meinem großen Bruder geschlafen, gespielt und mit ihm herumgealbert habe.
Als ich noch klein war, hatte ich abends immer Angst einzuschlafen. Ich dachte, unter meinem Bett befinden sich Monster oder ähnliches. Mein Bruder hat mir dann immer angeboten, bei ihm zu schlafen, und das tat ich auch sehr oft. In meinem alten Zimmer konnte ich eigentlich noch nie so richtig ruhig und gelassen einschlafen. Ich habe mich immer unwohl gefühlt. Das ist jetzt in Philips Zimmer das komplette Gegenteil. Ich kann ruhiger schlafen, bin öfter in meinem Zimmer und verbringe auch, wenn ich zuhause bin, die meiste Zeit darin.
Ich fühle mich in dem Zimmer meinem Bruder besonders nah. Ich merke, dass er ab und zu doch vorbei schaut und nach dem Rechten sieht.
Auf irgendeine Art habe ich auch mehr Motivation. Ich muss zugeben, ich bin ein ziemlich chaotischer Mensch und räume auch nicht so gerne auf, aber in Philips Zimmer ist eigentlich so gut wie immer Ordnung. Auch Hausaufgaben mache ich öfter, sauberer und durch strukturierter. Das Zimmer ist zwar noch nicht ganz fertig, da noch Kleinigkeiten fehlen, aber es ist auch ohne diese kleinen Dinge wunderschön. Allerdings nenne ich mein Zimmer häufiger „Philips Zimmer“ anstatt „mein Zimmer“. Es fühlt sich komisch an, zu Sachen die ihm gehörten, meins zu sagen. Früher habe ich mich mit meinem Bruder um alles gestritten. Sei es die Fernbedienung, der Sitzplatz beim Essen oder das Lego mit dem er gespielt hat. Wir hatten uns ständig in den Haaren, was uns wiederum auch zusammengeschweißt hat.
Als er später krank wurde und er immer weniger in seinem Zimmer war, ging ich auch immer seltener rein. Ich war dann immer bei ihm und habe mit ihm Harry Potter geschaut. Auch in den Ferien wich ich nicht von seiner Seite. Während alle anderen aus meiner Klasse im Schwimmbad waren, saß ich lieber zuhause und habe etwas mit meinem Bruder unternommen, soweit dies ging. Ich wollte Philip einfach nicht allein lassen. Ich konnte es einfach nicht – er war ja schließlich mein Bruder, und Geschwister halten zusammen.
In dieser Zeit als ich mit ihm zuhause war, wurde ich zu seiner kleinen Krankenschwester. Er musste über den Tag verteilt immer Tabletten nehmen, und da er zu faul war, sich zu bewegen (oder vielleicht wirklich nicht konnte), gab ich sie ihm. Solche Kleinigkeiten waren immer besondere Aufgaben für mich, da er sich die Tabletten meist nur von Mama und Papa geben lassen hat. Er hat mir vertraut, und das hat mich stolz gemacht. Auch wenn ich in dem Moment nicht daran gedacht habe, ist es im Nachhinein eine tolle Erinnerung. Ich habe durch meinen Bruder so viel dazu gelernt, bin erwachsener geworden als es mancher in meinem Alter ist und treffe wichtige Entscheidungen sorgsamer und gewissenhafter. Ich frage mich selbst immer, was Philip wohl getan hätte.
Auch mit meiner Trauer kann ich besser umgehen, seitdem ich in Philips Zimmer schlafe. Ganz vergessen und verarbeiten werde ich es nie, habe aber trotzdem eine schöne Erinnerung in Form seines Zimmers.
Elke (43) und Celine (15) leben zusammen mit ihrem Ehemann und Vater Jan Schmieder in Lengefelde, einem kleinen Ort im Erzgebirge. Für ihren Philip haben sie eine Gedenkseite eingerichtet: www.Gedenkseite-Philip-Schmieder.de
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